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        Der König und die Zeit
        
            Ein König,
          der irgendwann in der Zeit ein kleines Königreich regierte, war
          seinen Untertanen stets ein treuer und gerechter Herrscher. Man schätzte
          des Königs Klugheit und Weitsichtigkeit weit über die
          Grenzen seines Landes. 
             Doch ein Problem
          nagte in seiner Seele: Die Zeit. 
             So hetzte der König
          von Termin zu Termin und hätte er nicht eines Tages in einen der
          vielen Wandspiegel des Palastes geschaut, dann hätte er vor
          lauter Arbeitseifer die Zeit vergessen.  
          Frohgelaunt schaute er seinem
          eigenen Spiegelbild entgegen. Er erschrak, denn er hatte einige graue
          Haare in seinem schwarzen Haar entdeckt.  
             Betroffen blieb
          er stehen und wandte sich aufmerksam seinem Spiegelbild zu. Da
          entdeckte er eine tiefe Falte in seinem Gesicht, die quer zwischen
          Oberlippe und Mund verlief. 
          "Wie ist es möglich,
          dass ich das Alter erst jetzt sehe?" sinnierte er bitter. "Hat
          mich die Politik die Zeit vergessen lassen?" 
             Da der König
          ein eitler Monarch war, kränkte es ihn, daß die Zeit auch
          vor ihm nicht haltmachte.  
          "Ich muß der Zeit
          nachgehen", überlegte er. Er ließ seine treuen
          Untertanen zu sich rufen und teilte ihnen mit, dass er für einen
          längeren Zeitraum verreisen müsse. 
             Das Wörtchen
          "Zeit" hatte ihn so in Panik versetzt, daß er sich
          unerkannt unter das Volk mischte, denn er mußte seinem Volk aufs
          Maul schauen. 
             "Wer weiß,
          wie meine Untertanen mit der Zeit umgehen", sinnierte er. Um
          unerkannt zu bleiben, hatte er sein kostbares Gewand gegen ein
          einfaches eingetauscht.  
             Wochen schon war
          er mit unbekanntem Ziel kreuz und quer durch sein reiches Land
          gereist, bis ihm eines Tages ein alter Mann auf einem Kamel begegnete. 
             Der Alte machte
          einen ruhigen und zufriedenen Eindruck auf den König. Höflich
          verbeugte sich der Alte vor dem König und sagte: 
             "Seid gegrüßt,
          Fremder! Wohin des Weges?"  
             Als der König
          nichts darauf erwiderte, fragte der Alte: "Warum jagt ihr der
          Zeit hinterher, Fremder?" 
             Der König
          war sprachlos, denn woher wußte der Alte, von seinem Vorhaben? 
             "Was kümmert's
          euch, warum ich die Zeit suche? Bedeutet Euch die Zeit denn gar
          nichts?" erwiderte der König.  
             "Ich bin in
          der Zeit alt geworden und nehme die Zeit nicht mehr so wichtig, denn
          niemand kann die Zeit anhalten!" antwortete der Alte. 
             Nachdenklich
          erwiderte der König: "Wie kann man die Zeit nicht wichtig
          nehmen? Von der Zeit hängt doch das Glück des Lebens ab."  
             Nachdenklich
          schaute der Alte den König an. Nach langem Schweigen erwiderte
          der Alte: "Mein Herr, wo ich herkomme, kennt man keine Zeit, denn
          die Zeit hat der Mensch erdacht und somit hat sich der Mensch von der
          Zeit zum Sklaven machen lassen."  
             Der König,
          der dem Alten sprachlos zugehört hatte, wollte aufbegehren, doch
          der Alte lächelte weise und sagte: "Mein Herr, was ihr mir
          sagen wollt, weiß ich längst. Ich weiß auch, warum
          ihr mir die Zeit als kostbarstes Gut anpreisen möchtet, doch sage
          ich euch, nehmt die Zeit nicht so wichtig, denn sie läuft euch ja
          doch davon!" 
             Der König,
          der Zusehens nachdenklich wurde, erwiderte: "Wie klug ihr seid
          Alter. Ich, der jahrelang ohne Zeit glücklich war, bin durch die
          Zeit aufgeschreckt worden. Seht", wies der König auf einige
          graue Haare seines Haarschopfes hin. "Die ersten grauen Haare
          sind nichts anders, als die Spuren der Zeit, sie waren der Anlaß
          meiner Wanderschaft."  
             Der Alte
          verneigte sich vor dem König und sprach: "Mein König,
          verzeiht mir, dass ich euch mit meiner Lebensphilosophie ein wenig
          erschreckt habe, denn ich bin die Zeit."  
             "Ihr? Aber
          soll ich das verstehen?" fragte der König und schüttete
          sein Haupt.  
             Der Alte
          erwiderte nicht, sondern war einfach weitergezogen. Ein sprachloser König
          schritt nachdenklich zu seinem Schloß zurück. Tag und Nacht
          grübelte er, wer wohl der Alte gewesen sein mag, denn noch nie
          war er einem so klugen Menschen begegnet. 
             Lange schon hatte
          der König seine Staatsgeschäfte wieder aufgenommen, doch der
          Alte ging ihm nicht aus dem Sinn. 
             Eines Tages
          schaute der König wieder in einem der großen Wandspiegel
          seines Palastes. Aufmerksam betrachtete er sein Spiegelbild. Nun erst
          erkannte er, dass er sich seinerzeit selbst begegnet war, denn der
          Alte war ein Teil seiner eigenen Persönlichkeit.  
             Zufrieden mich
          sich und der Welt, dass er sich von der Zeit nicht hat unterdrücken
          lassen, regierte er noch viele Jahre sein Königreich. Mit der
          Zeit hatte er sich längst ausgesöhnt. Und wenn er noch lebt,
          dann hat die Zeit ihm viel Zeit gegeben. 
           (C)2010Helga Panitzky  |